Dürfen Weisse Menschen Dreadlocks tragen oder ist es kulturelle Aneignung?
Die Debatte über Dreadlocks und kulturelle Aneignung wird (leider) seit einiger Zeit regelmäßig in der Öffentlichkeit geführt. Einige Menschen sind der Meinung, dass es nicht akzeptabel ist, wenn hellhäutige Menschen nicht-afrikanischer Abstammung Dreadlocks tragen. Eine Argumentation besagt, dass der Ursprung der Dreadlocks in Jamaika liegt und dass sie ein Symbol für Rebellion und Aufstand darstellen. Das Kopieren dieses Symbols, indem man Dreadlocks trägt, wird als Akt kolonialistischen Verhaltens betrachtet.
Wir von Dreadlocks Artesanal aus der Schweiz haben im Laufe unseres Lebens viele Dreadlocks gemacht, und das bei Menschen verschiedener Ethnien. Einige unserer Kunden haben Dreadlocks gewählt, weil sie diese Frisur cool oder schön finden, während andere eine spirituelle oder religiöse Bedeutung damit verbinden. Dreadlocks-Träger:innen sind so bunt und verschieden wie die Pflanzenvielfalt im Amazonas.
Meine Meinung zu dem Thema
Es ist wichtig, gleich zu Beginn klarzustellen, dass ich ein weißer, privilegierter Mann mit einem typisch schweizerischen Nachnamen bin. Ich hatte in meinem Leben immer das Glück, dass sich die Türen, an welche ich angeklopft habe, sich für mich geöffnet haben. Dies hat sicherlich auch mit meinem „white male privilege“ zu tun.
Ich finde die Diskussion über kulturelle Aneignung, Diskriminierung und Rassismus äußerst wichtig. Auch wenn ich, wie du gleich lesen wirst, in Bezug auf Dreadlocks eine klare Meinung vertrete, hat mich die Auseinandersetzung mit diesen Themen in anderen Lebensbereichen sehr sensibilisiert.
Zurück zum Thema.
Dürfen hellhäutige Menschen Dreadlocks tragen?
Ja, natürlich. Es gibt kein Gesetz dagegen. Es ist die falsche Frage. Besser wäre zu fragen:
«Ist es in Ordnung, wenn weiße Menschen Dreadlocks tragen?»
Auch hier ist die Antwort aus unserer Perspektive klar: ja!
Ich, Marc, bin Biologe. Ich betrachte die gesamte Diskussion eher sachlich und nüchtern aus der Sicht eines Naturwissenschaftlers. Das Argument, dass sich weiße Menschen eine Kultur aneignen, wenn sie Dreadlocks tragen, halte ich für nicht stichhaltig. Ich behaupte, Dreadlocks sind nicht das geistige Eigentum einer einzigen bestimmten Kultur.
Lange Haare wollen Dreadlocks sein
Warum? Lasst uns eine kleine Reise in die mikroskopische Welt der Haare unternehmen. Haare bestehen aus Proteinstrukturen, Keratin genannt, die spiralförmig angeordnet sind. Es liegt in der Natur von langen Haaren, dass sie sich verfilzen. Wenn du lange Haare hast und sie nicht kämmst, entstehen Dreadlocks. Dabei spielt es keine Rolle, ob du dunkelhäutig, weißhäutig, ein Hund oder ein Schaf bist. Das Haar selbst kümmert sich nicht um solche Unterschiede und verfilzt sich zu Dreadlocks.
«Oh, ich bekomme immer so schnell Knoten in den Haaren».
Ich nenne, dass eine Message von deinen Haaren an dich, dass deine Haare gerne Dreads sein möchten. Wenn du deine Haare für 2 Jahre nicht mehr kämmst, nicht mehr mit Shampoos wäscht und nicht schneidest, dann kriegst du Dreadlocks. Ein Kamm ist ein «Anti-Dreadlocks» Werkzeug.
Ist es Okay, wenn Weisse sich nicht kämmen?
Lassen Sie uns die Situation erneut betrachten, in der ein weißhäutiger Musiker in Bern sozusagen von der Bühne geschickt wurde. Was war die Argumentation?
„Hey, du bist weiß, du hast dich nicht gut genug gekämmt. Weiße Menschen müssen sich die Haare kämmen und mit Shampoo waschen, sonst ist es kulturelle Aneignung.“
Unter diesem Gesichtspunkt wird deutlich, dass die Diskussion bereits etwas absurd ist. Haare haben ihren eigenen Charakter! Dreadlocks sind älter als die Menschheit selbst, und keine Kultur kann das Copyright darauf beanspruchen.
Dreads around the World
Es ist mittlerweile bekannt, dass Dreadlocks in verschiedenen Kulturen auf der ganzen Welt vorkommen, nicht nur in Afrika. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass nicht in ganz Afrika Dreadlocks getragen werden. Auch in Afrika hängt es von verschiedenen ethnischen Gruppen ab, wer Dreadlocks trägt und wer nicht. In Nigeria zum Beispiel gibt es Stämme, in denen nur die Krieger Dreadlocks tragen dürfen. Das bedeutet, wenn ein Familienvater, der kein Krieger ist, Dreadlocks trägt, wird dies kulturell missbilligt.
Andere Kulturen mit Dreads findet man beispielsweise in Indien. Für die Sadhus haben die Dreadlocks eine wichtige spirituelle Bedeutung. Diese nennen die Sadhus «Jata» (Wurzeln).
Oder besuche den Louvre und betrachte die Jahrtausende alten Skulpturen aus Ägypten. Bin nur ich derjenige, der denkt, dass es sich dabei um Dreadlocks handelt? Die Tatsache, dass diese Skulpturen im Louvre stehen, ist in gewisser Weise auch eine Form der Aneignung, da sie einst von Napoleons Soldaten gestohlen wurden.
Es gibt viele weitere Kulturen mit Dreadlocks. Da bereits viel darübergeschrieben wurde, gehe ich nicht auf alle Kulturen ein. Aber du siehst, es ist kompliziert die Dreads über einen Kamm zu scheren (Wortspiel 😊).
«Aber das Wort Dreadlocks kommt aus Jamaika!»
«Aber das Wort Dreadlocks kommt doch aus Jamaika und heisst Furcht-locken! Das ist doch Aneignung!»
Wir bei Dreadlocks Artesanal verwenden bewusst nicht das Wort „Rastas„. Dieses Wort stammt aus der Religion der Rastafaris und bezieht sich auf Haile Selassie, den als „Messias“ verehrten ehemaligen Diktator Äthiopiens. In Jamaika haben dunkelhäutige unterdrückte Menschen ihre Haare wachsen lassen, um den britischen Kolonialherren „Furcht“ einzujagen. Dies war ein Zeichen des Widerstands und der Rebellion, weshalb sie Dreadlocks, «Furcht-locken», trugen.
Ich gebe zu, ein neutraler Begriff wie „Filz-Zottel“ wäre wahrscheinlich angemessener. Leider sind die Wörter Dreadlocks, Dreads oder Dreadies in unserem Wortschatz fest verankert, zumindest hier der Schweiz. Wir können auch nicht einfach neue Wörter erfinden, so funktioniert Sprache nunmal nicht.
Daher ist es nicht einfach, unseren Namen auf „Filzzottel-Artesanal“ zu ändern und unsere Webseite anzupassen. Das würde dazu führen, dass uns Google nicht mehr findet, weil niemand nach «Filzzottel» sucht.
Was ist kulturelle Aneignung?
Ich bin kein Soziologe und möchte hier auch keine Definitionen aufstellen.
Ich erkläre es anhand eines Beispiels: Auf dem Bild siehst du ein T-Shirt aus Peru. Die Stickereien darauf sind typisch für die Shipibo, eine indigene Gruppe aus dem Amazonasgebiet. Auf der rechten Seite siehst du ein bedrucktes T-Shirt aus Australien mit den Shipibo-Mustern.
Ich denke, dass dies als kulturelle Aneignung betrachtet werden kann, da die Muster eine geistige und kulturelle Errungenschaft der Shipibo darstellen (solche Muster findet man nirgendwo sonst auf der Welt). Während in Australien mehr Ressourcen zur Verfügung stehen, um eine Modelinie mit solchen Mustern zu entwickeln, ist dies im Amazonasgebiet etwas schwieriger. Daher halte ich dies in diesem Fall für eine Form der kulturellen Aneignung.
Emotionale Debatte mit wenig überzeugenden Argumenten
Die Debatte, die immer wieder aufflammt, ist oft stärker von emotionalen Aspekten geprägt als von sachlichen Argumenten. Leider werden auch gelegentlich falsche Argumente vorgebracht.
Gefeiert? Also, in den Nuller-Jahren hat mich die Polizei überhaupt nicht gefeiert.
Wisst ihr, wie oft ich plötzlich und grundlos von der Polizei kontrolliert wurde? Wir Dreadlockträger:innen werden im Allgemeinen wirklich nicht gefeiert, sondern tendenziell diskriminiert. Wir werden gelegentlich von konservativen oder rechtsextremen Kräften diskriminiert, was sich beispielsweise in Schwierigkeiten bei der Jobsuche oder Wohnungssuche äußern kann. Die Polizei neigt dazu, uns häufiger zu durchsuchen, da sie uns möglicherweise als potenziell kriminell ansieht.
Und jetzt werden wir auch noch von der linken Seite wegen unserer Haare kritisiert.
Dreadlocks zu tragen bedeutet, dass man sich bewusst der möglichen Diskriminierung durch die Gesellschaft aussetzt, auch wenn Dreadlocks heute akzeptierter sind als noch in den Nuller-Jahren. Tatsächlich wird man von der Gesellschaft nicht gefeiert, egal ob man weiß oder schwarz ist.
Interessant ist, dass bei der Swiss Fluggesellschaft nur Personen afrikanischer Abstammung Dreadlocks tragen können, was ich natürlich diesen Angestellten sehr gönne.
In einer Diskussionssendung hat jemand einmal behauptet, dass diejenigen, die Dreadlocks tragen, dies von Afroshops abgeschaut haben, und dies als Argument gegen weiße Dreadlocks angeführt. Damit meinte man uns.
Das ist auch einer der Gründe, warum mich diese Diskussion ein wenig nervt. Dort sitzen intellektuelle Aktivisten, die ansonsten wirklich gute Arbeit leisten und sich gegen Rassismus engagieren, aber ziehen sich irgendwelche Argumente aus der Nase, um ihren Punkt zu machen.
Nein, ich habe noch nie einen Afroshop von innen gesehen.
Ich habe mir die Dreadlocks-Technik selbst beigebracht. Und nein, ich habe mir Dreadlocks nicht wegen Bob Marley und Reggae gemacht. Ich war in der Goa-Szene unterwegs, und die Goaner ließen sich in den 90ger Jahren von den Sadhus in Indien inspirieren.
Dreadlocks zu machen ist ein Handwerk und erfordert Technik, und hat nichts mit Hautfarbe oder Ethnie zu tun. Mir dann vorzuwerfen, ich hätte es von jemand anderem abgeschaut, ist nicht nur falsch, sondern auch ein wenig ironisch, da oft in den Afroshops das Wissen darüber fehlt, wie man bei Menschen mit weißem Haar ordentliche Dreadlocks macht.
Gegen die Dreadlocks-Fashion?
Einige Leute behaupten, dass Dreadlocks inzwischen zur Modeerscheinung geworden sind. Doch Dreadlocks sind keine Frisur, die man einfach kaufen kann. Das Erlangen von Dreadlocks ist eine Reise, die Geduld, Zeit, Arbeit und finanzielle Investition erfordert, um sicherzustellen, dass die Dreadlocks gesund wachsen und gedeihen.
Wir führen keine Extensions durch, und einer der Hauptgründe dafür ist, dass diese Reise nicht einfach durch die Verwendung von Plastik oder gekauftem Haar abgekürzt werden sollte.
Die Frage, ob es in Ordnung ist, sich Plastikdreads zu machen, sollte jeder für sich selbst entscheiden. Ich persönlich möchte einfach nichts damit zu tun haben. Lies hier mehr dazu.
Ich denke, dass das Tragen von unechten Dreadlocks auch dazu beitragen kann, negative Reaktionen hervorzurufen. Es scheint so, als ob man Dreadlocks schnell aus Jux machen und dann wieder loswerden kann, wie es Justin Bieber oft tut. Deshalb entscheiden wir uns dafür, Dreadlocks nur für Menschen anzufertigen, die die Geduld mitbringen und diese Frisur mit Respekt tragen.
Die Konsequenzen dieser Debatte zur kulturellen Aneignung von Dreadlocks
Die Konsequenzen dieser Debatte über die kulturelle Aneignung von Dreadlocks haben meiner Meinung nach verschiedene negative Auswirkungen, die wahrscheinlich nicht beabsichtigt waren.
Gesteigerte Intoleranz
Als ich nach Mitbewohner:innen suchte, hat ein Bewerber seine Bewerbung zurückgezogen, nachdem er herausgefunden hatte, dass ich Dreadlocks trage und mache. Er sagte:
„Ich fühle mich nicht wohl in der Nähe weißer Menschen mit Dreadlocks!“
Meine Antwort war: „Ich bin farbenblind. Ich fühle mich nicht unwohl in der Nähe von Menschen, die keine Hautfarben sehen.“
Wir leben in einer Welt, die tendenziell weiter nach rechts rückt. Nationalismus und Rassismus nehmen zu. Es ist wichtig, dass wir uns für Toleranz, Gleichheit, Gerechtigkeit und Umweltschutz einsetzen.
Was nun passiert ist, dass die Linken, die eigentlich aus meinem Lager kommen, sich gegen uns stellen, während rechtsextreme Parteien sich schützend vor uns stellen, mit dem Argument, dass Dreadlockträger:innen rassistisch beleidigt werden. Das ist eine verkehrte Welt.
Es lenkt vor den wahren Problemen ab
Und es ist gefährlich. Wir haben, soweit ich verstehe, immer noch viele Probleme mit Rassismus und Diskriminierung. Menschen in der Schweiz mit einem exotischen Namen haben vermehrt Probleme, eine Lehrstelle zu finden. Menschen mit einer anderen Hautfarbe werden häufiger von der Polizei kontrolliert. Menschen mit Migrationshintergrund haben Nachteile in der Schule.
Und worüber diskutieren wir? Über die Frage, ob es in Ordnung ist, Dreadlocks zu tragen. Come on! Die Rechten freuen sich, denn es lenkt von den eigentlichen Problemen ab. Die Rechten sagen: „Wenn weiße Menschen mit Dreadlocks das einzige Problem mit Rassismus sind, ist ja alles in Ordnung.“
Es gibt Menschen, die durch Weisse mit Dreadlocks getriggerd werden. Aber wisst ihr was? Ein Trigger ist nicht die Ursache des Problems. Die Probleme existieren in unserer Gesellschaft, in der Rassismus und Diskriminierung noch nicht beseitigt sind. Indem man uns Dread-Heads für diese Probleme mitverantwortlich macht, hilft man überhaupt nicht; im schlimmsten Fall wird das Thema Rassismus ins Lächerliche gezogen.
Die Diskussion schadet auch den Afroshops
Es ist nicht nur so, dass die Diskussion über weisse mit Dreads unsere Kundschaft erschreckt. Es betrifft auch die Minderheit, welche man eigentlich schützen will.
Eine uns bekannte Besitzerin eines Afroshops in Basel hat erzählt, dass früher viele Kinder und Jugendliche sich bei ihr Cornrows gemacht hätten. Diese Kundschaft bleibe heutzutage aus. Das Geschäft von diesem Afroshop leidet darunter. War das die Idee?
Abschliessender Gedanken
Die Debatte war gerade im Jahr 2022 emotional. Das Sommerloch hat dazu beigetragen, dass es in den Medien eine grosse Welle mit diesem Thema gab. Das Thema ist ein wenig abgeklungen. Dennoch, es ist in den Köpfen der Menschen geblieben.
Dreadlocks sind älter als die Menschheit. Es liegt in der Natur des Haares sich zu verfilzen. Daher, Jeder welcher sich commited um die Dreadlocks Reise zu machen, soll diese Reise machen dürfen.
Und dies ohne dass von linker und rechter Seite mit den Fingern auf uns gezeigt wird.
Und wir Dreadlocksträger:innen haben das Anrecht unsere Haare nicht zu kämmen. Also lasst uns bitte in Ruhe.
Ich finde, wir sollten zusammenstehen, tolerant sein und uns für eine bessere Welt einsetzten, dort wo es wirklich nötig ist.
Mein Interview mit dem Blick
Hier findest du auch noch den Artikel vom Blick, welcher über das Thema geschrieben hat.
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